Den Finger in die Wunde legen - Kritische Phänomenologien der Gewalt

Organisator:innen: Michael Staudigl, Charlotte Bomert, Georg Harfensteller

Die Konferenz setzt sich zur Aufgabe, die aktuell v.a. im angloamerikanischen Raum sich intensivierende Debatte um die sog. "critical phenomenology" mit Blick auf Phänomene der Gewalt zu erproben. Zudem bietet sie einen Ort des Austausches für die junge phänomenologische Gewaltforschung am Institut für Philosophie in Wien. Anhand konkreter Phänomenanalysen soll gezeigt werden, wie sich eine für soziale, politische und globale Problemlagen neu profilierende Phänomenologie mit deskriptiven, genealogischen und kritischen Theorieelemente konstruktiv verbinden und so neue Einsichten für die Gewaltforschung erarbeiten vermag. Die Einbeziehung von Diskursen aus den Postcolonial Studies, der Critical Race Theorie sowie feministischer und poststrukturalistischer Theorie eröffnet dabei nicht nur weiterführende thematische Felder, sondern erweist in eins die theorieintersektionale Anschlussfähigkeit angewandter Phänomenologie (Interview zur Konferenz mit Michael Staudigl).


Keynotes

 

Claudia Brunner - Strukturell, symbolisch, normativ- und epistemisch: Gewalt weiter denken in der kolonialen Moderne

Kommentiert von Christian Pflügl.

In meinem Beitrag argumentiere ich dafür, unser Verständnis von ‚Gewalt' entlang unterschiedlicher kritischer Denktraditionen zu weiten - nicht zuletzt auch, um direkte, physische Gewaltphänomene besser einordnen zu können. Bekannte Gewaltkonzepte wie die von Bourdieu (symbolische), Galtung (strukturelle, kulturelle), Butler (normative) werden dabei einer post-dekolonial-feministischen Relektüre ausgehend vom Konzept epistemischer Gewalt (Spivak und andere) unterzogen. In den Fokus rückt damit bei allen diskutierten Konzepten die Frage nach dem Zusammenhang von ‚Wissen' und ‚Gewalt' in den je unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven - sowie in den beobachtbaren Gewaltphänomenen selbst. Eine auf diese Weise belebte, interdisziplinäre Politische Theorie soll uns als Werkzeug dafür dienen, nicht nur Gewalt und Macht, sondern vor allem auch Herrschaft in der kolonialen Moderne, unserer Gegenwart, besser verstehen und herausfordern zu können.

Claudia Brunner ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und assoziierte Professorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Universität Klagenfurt. Aus herrschaftskritischer Perspektive beschäftigt sie sich seit vielen Jahren mit Zusammenhängen zwischen Wissen(schaft) und Gewalt(freiheit). Ihre interdisziplinäre Grundlagenforschung wurde in Deutschland und Österreich mehrfach mit Wissenschaftspreisen ausgezeichnet und von nationalen Fördergeber*innen (DFG, FWF) unterstützt. Mehr zu Person und Profil sowie zahlreiche Texte finden Sie auf www.epistemicviolence.info.

 

Pascal Delhom - Erlittene Gewalt. Die Frage des Zugangs zu den Phänomenen

Kommentiert von Daniel Prem.

In meinem Beitrag konzentriere ich mich, wie meistens, auf Phänomene erlittener Gewalt, das heißt auf Verletzungen, die als Gewalt erfahren und erlitten werden. Solche Verletzungen sind keine Phänomene, die restlos aus der Distanz und in einer intentionalen Beziehung konstituiert werden können. Denn sie sind für diejenigen, die sie erleiden, nicht auf der Seite der gegenständlichen Welt, sondern auf der eigenen Seite, bei ihrem eigenen Leib. Und sie werden nicht primär konstituiert, sondern erlitten.

Für die Phänomenologie stellt sich deswegen auf besondere Weise die Frage des Zugangs zu solchen Phänomenen, die sich zum Teil der Phänomenalität entziehen, weil sie zu nah sind. Diese Frage stellt sich unterschiedlich je nachdem, ob es sich hierbei für die Phänomenologin um die eigene Gewalterfahrung handelt, um eine Erfahrung, dessen Zeugin sie gewesen ist, oder um eine Erfahrung, die ihr durch das Zeugnis anderer zugänglich gemacht wurde, wie es meistens der Fall ist. Doch in allen Fällen scheint der Versuch einer Objektivierung der Erfahrung dazuzuführen, dass das Eigentliche der Erfahrung, das Erleiden, verschwindet. Erlittene Gewalt erfordert also, um zugänglich zu werden, eine Sensibilität für das, was sich nicht als Objekt zeigt.

 

Gerald Posselt - Zeichensprache der Verletzungen: Schnittstellen sprachlicher und körperlicher Gewalt

Kommentiert von Ingmar Nordborg.

Diskussionen über Gewalt sind nicht zuletzt auch Auseinandersetzungen über den Gewaltbegriff. Diese führen häufig zu einem Streit über eine enge oder weite Definition von Gewalt. Während Verfechter:innen eines engen Gewaltbegriffs dafür plädieren, diesen ausschließlich auf intentionale körperliche Verletzungsakte zu beschränken, argumentieren Vertreter:innen eines weiten Gewaltbegriffs dafür, diesen auf Phänomene psychischer, symbolischer, struktureller oder epistemischer Gewalt auszudehnen. Während die erste Position Gefahr läuft, grundlegende Gewalterfahrung auszublenden, tendiert die zweite dazu, den Gewaltbegriff so weit auszudehnen, dass er nicht nur analytisch unbrauchbar wird, sondern auch Erfahrungen massiver körperlicher Gewalt relativiert. Grund für dieses Dilemma ist, so die These, dass beide Positionen dem Bedingungsverhältnis von Sprache und Gewalt nur unzureichend Rechnung tragen. In einem ersten Schritt werde ich zeigen, dass der Versuch, eine eindeutige Trennungslinie zwischen sprachlicher und körperlicher Gewalt zu ziehen, sich selbst unterläuft, um in einem zweiten Schritt eine Konzeption von Gewalt zu skizzieren, die sowohl der sprachlichen als auch körperlichen Dimension von Gewalt Rechnung zu tragen vermag, ohne die eine auf die andere zu reduzieren.

 

Mit einer Eröffnungsansprache und thematischen Einführung durch Michael Staudigl.

 

Beiträge

 

Charlotte Bomert - Horror und Gewalt: Probleme der Befreiung des Subjekts im Anschluss an Julia Kristéva

Julia Kristévas Werk durchzieht die Auseinandersetzung mit Gewalt. Innerhalb meines Vortrags möchte ich davon zwei Aspekte – den Horror angesichts extremer Grenzphänomene und die „positive Gewalt“ von Avantgardeliteratur – verbinden, um mit Kristéva den Horror bzw. die Entsetzung angesichts von gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen als Effekt des Zusammenbruchs subjektiver und symbolischer Ordnungen zu begreifen, der als Triebfeder emanzipatorischer Veränderungen im Subjekt dienen kann. Das darin liegende Potential einer (nicht auf Identität) beruhenden Neuorganisierung von Subjektivität birgt indes die Gefahr des Verfalls in faschistischen und antisemitischen Wahn – worauf Kristéva mit Céline verweist. Im Zuge dieser Diskussion erweisen sich sowohl das in Abgrenzung zur Phänomenologie entworfene „Subjekt-im-Prozess“ Kristévas als auch ihre Verbindung von Psychoanalyse und Phänomenologie als produktiv für eine „critical phenomenology“.

 

Emine Calisgan - “Bei euch ist das doch üblich, oder?”. Die verletzende Macht der Worte.

„Worte sind Schall und Rauch“ lautet ein Sprichwort, welches die Vorstellung vermittelt, dass Worte keine Substanz haben und nichts Bleibendes erschaffen können. Aber: Die Sprache ist viel mehr, weil sie u.a. als Mittel zur Kommunikation und zur Bildung unserer Identität dient. Sie hat Macht - auch eine verletzende Macht. Verletzend sind nicht nur diskriminierende oder beleidigende Worte, sondern auch neutrale oder vermeintlich gut gemeinte. Somit stellt sich die Frage: Inwiefern kann eine Person durch Sprache verletzt oder sogar aberkannt werden?

 

Chiara Dankl - Gewalt als Undenkbarkeit. Die Verschleierung von Machtmechanismen im gegenwärtigen Modell der Depression

Der Vortrag betrachtet Depression philosophisch als Sozialpathologie und geht der Frage nach, welche Spuren von unsichtbarer Macht und Gewalt sich in ihr erkennen lassen. Mit Foucaults Macht- und Subjektivierungstheorien gedacht, erfüllt Depression drei Funktionen: Sie liefert erstens eine Erfahrungsweise des Scheiterns an Normativität, sie bietet zweitens Techniken der Wiederanpassung, aber sie verschleiert dabei drittens einen Teil ihrer eigenen Entstehungsbedingungen. In dieser Asymmetrie von gesellschaftlicher Mitkonstitution und individualisierter Erklärung stellen sich mehrere Fragen: Kann es Gewalt, ähnlich wie Macht, ohne physische Einwirkung, ohne Täter*in, ohne Wunde geben? Kann es Gewalt auf der Ebene des Verstehens von sich selbst geben, etwa durch die Verschleierung von Zusammenhängen, die Verschiebung von Verantwortung – durch Undenkbarkeiten? Und welches kritische Potential liegt dabei in der spezifisch depressiven Erlebensweise?

 

Lukas Fischer - Lachen und Gewalt in Klaus Theweleits Psychogrammen der Tötungslust

Mit journalistischen Reportagen, Zeitungsausschnitten und wenig ausgemachtem Konsens ausgestattet, schließt Klaus Theweleit die Lücke, die sein Werk noch lässt. Von den Königstöchtern bis zu den Freikorps und Faschisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigt ihn die Gewalt. Die gegenwärtigen und jüngst vergangenen Gewaltexzesse fügt er in den 2015 erschienen lose zusammenhängenden „Psychogrammen der Tötungslust“ unter der Beobachtung des Lachens der Täterfiguren zusammen. Theweleit zieht so eine Verbindung von zwei sonst schwer zusammen wollenden Dingen. Lachen und Tötungslust passen auf den ersten Blick nicht zusammen. Genau darum soll es aber gehen. Warum lachen die Täter, wann lächeln sie und was lässt sich darüber sagen; in welcher Beziehung stehen hier Gewalt und Lachen und was kann das erhellen?

 

David Gamsjäger - Der Abgrund des „Ich-kann“. Akzentuierung einer kritischen Phänomenologie des Gewaltsamen entlang von Tsitsi Dangarembga und Frantz Fanon

Phänomenologische Arbeiten ausgehend von Husserl und Merleau-Ponty beschreiben unser leibliches In-der-Welt-sein im Modus des „Ich-kann“. Das ‚neutrale‘ Körperschema entspricht einer Öffnung zur Welt, die es uns erlaubt, uns in ihr einzurichten und Zuhause zu fühlen. Entlang von Texten Frantz Fanons und Tsitsi Dangarembgas soll die vermeintlich neutrale Darstellung des vermögenden „Ich-kann“ problematisiert und darlegt werden, inwieweit darin die Perspektive einer autonomen, selbstgesetzten und selbstgegenwärtigen Subjektivität zum Ausdruck kommt, die ihre Spezifität gleichsam als Universalität und Normalität ausgibt. Aufrechterhalten kann die privilegierte Position nur werden, indem Körper, die dieser Norm nicht entsprechen, mit Prozessen der Abwertung konfrontiert werden. In radikaler Weise vollziehen sich Akte der Abwertung und Degradierung in der Missachtung des Status des vollwertigen Menschseins.

 

Sonja Gassner - Nicht nichts. Soziale Negation und radikale Imagination bei Iris Därmann und Saidiya Hartman

Wie lässt sich von Widerstandspraktiken in extremen Gewaltsituationen sprechen? Wie können Akte der Verweigerung und des Sich-Entziehens begrifflich gefasst werden, obgleich sich diese „vielfach nur im Verborgenen […] ereignen“ (Därmann 2020) und sogar dort, wo sie mit historischer Nachträglichkeit Sichtbarkeit erlangen, an ein Archiv und eine Bildsprache gebunden bleiben, deren Macht nicht zu trennen ist von der Gewalt, die Versklavte und Entrechtete ermordet (Hartman 2008, 11)?
In Anlehnung an Iris Därmanns Plädoyer für eine verschränkte Gewalt- und Widerstandsforschung und Saidiya Hartmans Konzept der „Critical Fabulation“ geht der Beitrag diesen Fragen nach. Insbesondere Hartmans Versuch, der sozialen Negation durch das Archiv zu trotzen, indem sie un-mögliche Gegengeschichten erzählt, wird als eine Praktik radikaler Imagination verhandelt.

 

Georg Harfensteller - Fragile Bezugsgewebe. Gewalt als Gründungsmoment politischer Gemeinschaft

Mit der Frage nach der Entstehung politischer Gemeinschaftlichkeit versucht der Beitrag Licht auf den Zusammenhang von geteilter Gewalt und politischer Gemeinschaftlichkeit zu werfen. Dafür werden Demonstrationen von Protestbewegungen im Entstehungsprozess betrachtet. Gewalt zeigt sich hier als gewaltsame Einschränkung des Handlungsraums (Judith Butler) und gemeinsames Entmächtigen des „Ich kann“, als erfahrener Widerstand in der Welt und Bedrohung der Pluralität (Hannah Arendt). Daraus ergibt sich folgende These: Die als gemeinsam und gewalttätig erfahrene Einschränkung des Handlungsvermögens ist ein wesentliches Gründungsmoment politischer Gemeinschaft. Dies hat zur Folge, dass politische Gemeinschaft die Überwindung der Gewalt zum Ziel hat, die sie selbst begründet.

 

Michał Maczuga - Can we posit violence without valuation?. Critical perspectives on the ethical epoché and the reduction to vulnerability

The phenomenological approach to violence proposes to see it not in the sphere of reasons where it is posited as ‘wrong’ or ‘right’, as ‘justified’ or ‘arbitrary’. To investigate it properly it excludes all those normative criteria and tries to reduce the genesis of violence to the sphere of vulnerability of embodied subjects. The aim of my talk is to problematize these two initial steps – the ethical epoché and the reduction to vulnerability. The main question I want to pose is whether these operations are possible to conduct while we remain engaged in the intuition that violence is something that we should seek to minimize.

 

Manu Sharma - Historical Nostalgia and Colonial Monolingualism: Cruelties in Writing-Righting-Whiting oneself

I hope to say something about the Hindu right wing nostalgic in India and the origins of its colonial monolingualism (Derrida). I argue that such a historical nostalgia i.e. a nostalgic that goes to monolingual histories to complete itself: is tied to the vision of a monolingual future which now materializes in lynchings, arrests and desires of ethnic cleansing.